Nachhaltigkeit im Oblast Mogiljow: Alexei Shadrakov & Siarhei Tarasiuk im Interview
Seit über 10 Jahren beteiligt sich die LAG 21 NRW in Kooperation mit dem Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund (IBB) am Förderprogramm Belarus der deutschen Bundesregierung, in dem u.a. lokale Nachhaltigkeitsstrategien erarbeitet und Dialogformate durchgeführt werden.
Siarhei Tarasiuk und Alexei Shadrakov begleiten die Nachhaltigkeitsprozesse im Gebiet Mogiljow auf regionaler und lokaler Ebene. Im Interview geben sie Einblicke in die Nachhaltigkeitsstrategie für das Gebiet Mogiljow und sprechen darüber, wie Nachhaltige Entwicklung in Belarus aktuell gehemmt wird. Sie unterstreichen aber auch, dass Nachhaltigkeit für Wettbewerbsfähigkeit sorgt und dass partizipative Prozesse langfristig mehr Erfolg bringen.
Aus dem Russischen übersetzt von Siarhei Paulavitski und Evgeny Yuriev
Sie nehmen am Trainingskurs „Kapazitätsaufbau und Empowerment zur Lokalisierung der Agenda 2030 in Belarus“ teil, der im Rahmen des Förderprogramms Belarus vom IBB Dortmund und der LAG 21 NRW veranstaltet wird. Was ist Ihre Motivation und was ist der Nutzen für Sie?
Die Teilnahme am Trainingskurs ist eine neue Etappe in unserer Entwicklung als Experten, die sich in ihrer Arbeit ganz auf die Aktivierung und Stärkung der Lokalisierungsprozesse der Agenda 2030 konzentrieren. Es geht zum einen darum, unsere (d. h. beider Experten) mehr als 20-jährige Erfahrung in der Förderung der regionalen und lokalen Entwicklung zu analysieren und zu systematisieren. Zum anderen wollen wir diese Erfahrungen mit Kenntnissen und Kompetenzen ergänzen, über die unsere anderen Kolleg*innen verfügen und die uns fehlen, um den Übergang zur nachhaltigen Entwicklung auf lokaler Ebene noch intensiver zu fördern. Daher bedeutet die Teilnahme an dem Kurs für uns beide eine Gelegenheit zur Analyse und Systematisierung, aber auch zum Lernen und zur Anpassung neu erworbener Kompetenzen und Produkte für nachhaltige Entwicklung, zu denen auch der von uns inhaltlich mitentwickelte Online-Weiterbildungskurs gehört, an jeweilige lokale Gegebenheiten.
Darüber hinaus ermöglicht der Kurs eine intensive Kommunikation und den Informationsaustausch über Erfahrungen mit der Nachhaltigkeitsförderung mit belarussischen und ausländischen Kolleg*innen. So können wir unsere Arbeit noch effizienter gestalten.
Schließlich ist der Online-Weiterbildungskurs, der im Rahmen des Trainingskurses entwickelt wird, ein einzigartiges Produkt und wir sind stolz, zu seiner Entstehung gemeinsam beitragen zu können. Dieses Produkt könnte dann auch als Markenzeichen unserer Expertenkompetenz dienen. Es wird uns ermöglichen, Dienstleistungen auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit besser zu entwickeln und anzubieten, sowohl allein als auch in Zusammenarbeit mit unseren Kolleg*innen.
Wie wirkt sich die aktuelle politische Situation in Belarus auf die Arbeit in internationalen Projekten und Nachhaltigkeitsaktivitäten aus?
Die nachhaltige Entwicklung ist ein Prozess, der permanent globalen, regionalen und lokalen Herausforderungen unterschiedlicher Komplexität und Schwere ausgesetzt war und ist, die eine kluge Bewältigungsstrategie erfordern. Die gegenwärtige Situation in Belarus hemmt zunehmend die nachhaltige Entwicklung, indem sich die Lokalisierung der SDGs verlangsamt. Das räumliche und zeitliche Vakuum, das bei der Lokalisierung der SDGs entsteht, muss aber früher oder später durch konkrete Aktionen und Projekte ausgefüllt werden, da in den Ländern rund um Belarus die Lokalisierung der SDGs zielbewusst, ja mit Siebenmeilenschritten voranschreitet.
Die SDGs zu lokalisieren bedeutet auch die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken - das muss man sich stets vor Augen halten. Gerade deswegen könnte man davon ausgehen, dass sich Belarus innerhalb von zwei bis drei Jahren wieder an praxisorientierten wirksamen Grundsätzen für die Entwicklung und Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene orientieren wird, und zwar sowohl als Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung des Landes als auch für den Beitrag zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele.
Aber in zwei bis drei Jahren wird es eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Anstrengungen im Vergleich zu heute erfordern. Deshalb ist es so wichtig, die in Belarus vorhandene Erfahrung und Expertise im Bereich der nachhaltigen Entwicklung aufrechtzuerhalten, die mobilisiert werden können, um die Lokalisierung der SDGs in Belarus bei einem künftigen sozio-politischen Tauwetter zu beschleunigen, was eine umfassende Nachhaltigkeitstransformation begünstigen würde.
Im Gebiet Mogiljow wurde im Dezember 2021 die erste Fassung der regionalen Nachhaltigkeitsstrategie veröffentlicht. Welche Themen sind darin als für die Region besonders relevant bezeichnet?
Die wichtigste Herausforderung für die Entwicklung des Gebiets Mogiljow ist die Demografie. Wenn der derzeitige Trend anhält, wird die Region in drei bis fünf Jahren weniger als eine Millionen Einwohner haben (2019: 1,05 Mio.). Dies kann als ein kritischer Punkt in der Entwicklung der Region angesehen werden. Dieser Indikator ist jedoch nur eine Folge anderer Prozesse wie Beschäftigung, Einkommensniveau, soziale Lebensbedingungen usw. Unter diesem Gesichtspunkt wurden folgende Schlüsselthemen der ersten Nachhaltigkeitsstrategie des Gebiets Mogiljow für den Zeitraum bis 2035 identifiziert:
- Ökologisierung: Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft und Anpassung an den Klimawandel
- Übergang zum ökologischen Landbau und Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit
- Ausweitung von Naturschutzgebieten zur Erhaltung der Artenvielfalt
- grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Erhaltung der Wasserressourcen im Einzugsgebiet des Flusses Dnjepr
- Stärkung der Zusammenarbeit und der Clusterbildung zwischen den territorialen Verwaltungseinheiten der Region (Kreise, Städte, Dörfer) und den Wirtschaftsakteuren, um auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren
- Digitalisierung in allen Lebensbereichen, insbesondere im sozialen und wirtschaftlichen Bereich sowie im Entwicklungsmanagement
- Sensibilisierung und Information aller Bevölkerungsgruppen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung
- Organisation einer offenen und breiten Beteiligung von Bürger*innen an Nachhaltigkeitsprozessen
Der letzte Punkt in dieser Liste hat höchste Priorität; die Bevölkerung der Region ist der Baumeister ihrer eigenen Zukunft.
Was erwarten Sie von der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie des Gebiets Mogiljow — und auf welche Herausforderungen muss man sich einstellen?
Die Haupterwartungen, die die Entwickler*innen und wir als Experten mit der Realisierung der Strategie verbinden, beziehen sich auf die Verbesserung der demografischen Situation. Dies würde eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Region im Bereich der Humanressourcen bedeuten, dass die Region also genügend Arbeitsplätze und ein höheres Einkommen als ihre Nachbarn bietet, dass man dort komfortabler und sicherer lebt, dass die Umweltqualität besser wird und mehr Naturschutzgebiete entstehen.
Die größte Herausforderung dabei ist, ob sich das derzeitige System des Entwicklungsmanagements für die umfassende Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie flexibel, agil und anpassungsfähig zeigt. Auf dem Weg dorthin gibt es viele Fragen. Wer ist heute zum Beispiel für sektorenübergreifende Themen wie die Digitalisierung oder die grüne Wirtschaft zuständig? Wir brauchen bereits jetzt ein regionales Forschungs- und Kompetenzzentrum zur Unterstützung der regionalen Entwicklung. Natürlich ist es ebenso wichtig, eine grüne Finanzierungsbasis zu schaffen, die vor allem der Förderung von in Wettbewerben ausgewählten Projekten zur Beschleunigung der nachhaltigen Entwicklung dienen soll.
Wie kann man in der aktuellen Situation die Zivilgesellschaft und die Bevölkerung insgesamt erfolgreich in Partizipationsprozesse zu Nachhaltigkeitsthemen einbinden?
Die Schlüssel zum Erfolg der zivilgesellschaftlichen Beteiligung sind:
- Politische Unterstützung der Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen und Aufwertung des Konzepts Bürgerbeteiligung — leider haben wir es heute mit einer gegenteiligen Situation zu tun;
- Ausarbeitung staatlicher Programme auf der Grundlage lokaler Anregungen mit der Möglichkeit der zivilgesellschaftlichen Beteiligung an ihrer Umsetzung — das ist heute leider nicht der Fall;
- Förderung der Partizipation durch Zuweisung von Finanzmitteln (aus lokalen Haushalten, durch Unternehmen und karitative Organisationen) an Initiativgruppen, damit diese selbstbestimmt in die lokale Entwicklung investieren können — auch da sind wir derzeit mit einem Gegenteil konfrontiert.
In dieser schwierigen Situation scheint es wichtig, Informationen über internationale Best Practices zur Lokalisierung der SDGs und ihre jeweilige Wirkung auf die Steigerung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität in den Bereichen Humanressourcen und Entwicklungsressourcen für verschiedene Zielgruppen (Behörden, Fachleute, Bevölkerung, Universitäten und Berufsbildungseinrichtungen) weiterhin zugänglich zu halten.
Inwieweit reicht das eigene Potenzial der Region, um an nachhaltigkeitsbezogenen Themen zu arbeiten?
Das Gebiet Mogiljow verfügt über ein hohes Humanpotenzial und umfangreiche materielle und finanzielle Ressourcen, um den Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung zu beschleunigen. Hier gibt es eine entwickelte Wirtschaft, ein Netz von Bildungseinrichtungen, ein Managementsystem für die Regionalentwicklung und zahlreiche Partnerschaften mit Organisationen und Gemeinden im Ausland. In der Region sind umfangreiche, für Belarus fortschrittliche Erfahrungen mit Projektaktivitäten in den Bereichen Umweltschutz, Gesundheitswesen, inklusives städtisches Umfeld, Gründerförderung und Tourismusentwicklung gesammelt worden. Über 100 öffentliche Einrichtungen und zivilgesellschaftliche Non-Profit-Organisationen haben bereits Projekte umgesetzt, um aktuelle Probleme fokussiert zu lösen.
Es ist wichtig, Kooperationen mit ausländischen Regionen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen zu entwickeln, damit ein Erfahrungsaustausch und der Transfer innovativer Technologien, die zur Verbesserung der Nachhaltigkeit der Region erforderlich sind, stattfinden kann. Ebenso wichtig ist es, die Region dahingehend wettbewerbsfähiger zu machen, dass sie externe „grüne“ Mittel zur Finanzierung kleinerer sowie großer Vorzeigeprojekte sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Bereich erfolgreicher akquirieren kann.
Schon heute macht das Gebiet Mogiljow erste Schritte zur Nachhaltigkeit, dabei stützt sich die Region auf ihre eigenen Ressourcen und wird von in- und ausländischen Experten informiert und beraten. Die deutschen Partner, das IBB in Dortmund und die LAG 21 NRW nehmen dabei eine Vorreiterrolle ein.
Wie wird die lokale Ebene (Kreise, Gemeinden) in die Umsetzung der SDGs und die Entwicklung entsprechender Aktionspläne einbezogen?
Bereits vor und während der Ausarbeitung der Nachhaltigkeitsstrategie für das Gebiet Mogiljow waren mehr als zehn Kreise des Gebiets aktiv an der Entwicklung und Umsetzung von Projekten und Initiativen beteiligt, die sie Schritt für Schritt zu der Erkenntnis brachten, dass sie eigene lokale Strategien für nachhaltige Entwicklung brauchen.
Daher zeichnet sich die neulich beschlossene Nachhaltigkeitsstrategie für Mogiljow für den Zeitraum bis 2035 vorteilhaft dadurch aus, dass sie lokale Bedürfnisse und Herausforderungen berücksichtigt. Die regionale Strategie schafft günstige Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Kreise, indem sie ihre Kooperation untereinander ermöglicht und ihre Anstrengungen und Ressourcen bündeln lässt. So werden die Ressourcen der Region gezielt in die lokalen Schwerpunktbereiche der Entwicklung investiert wie z. B. die Förderung von Existenzgründungen, die Verbesserung der Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung, die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur etc.
Bezeichnend für die Region war, dass auf Initiative der regionalen Verwaltung (Exekutivkomitee des Gebiets Mogiljow) ab Ende 2020 eine Werkstatt (Workshopreihe) für lokale Nachhaltigkeitsstrategien stattfindet: Vertreter*innen von sieben Landkreisen und der Stadt Bobruisk, die in einem Wettbewerbsverfahren ausgewählt wurden, erwerben hier Kompetenzen für die Erarbeitung von Kreis- bzw. Stadtstrategien für nachhaltige Entwicklung und leiten dann selbst entsprechende Strategieprozesse vor Ort.
Ein wichtiges Ergebnis der Workshopreihe soll sein, dass künftige Entwickler*innen von Strategiedokumenten zur nachhaltigen Entwicklung klar verstehen, wie wichtig es ist, die Partizipation zu gewährleisten, d. h. dafür zu sorgen, dass sich Bürger, Organisationen und Unternehmen sowie Verwaltungen und politische Gremien jeder Ebene an der Entwicklung und Umsetzung solcher Strategien aktiv beteiligen. Die Bedeutung des partizipativen Ansatzes wird einem ganz deutlich, wenn die Umsetzung der beschlossenen Strategie beginnt: war eine breite Beteiligung an der Erarbeitung gewährleistet, dann rücken alle Beteiligten mit dem Start der Umsetzung enger zusammen, um gemeinsam voranzuschreiten. Andernfalls ist sehr wahrscheinlich, dass es Meinungsverschiedenheiten über die Ziele und Inhalte der zu umsetzenden Strategie gibt, da eine partizipative Diskussion in der Entwicklungsphase nicht stattgefunden hat. Ein Erfolg ist unter solchen Bedingungen eher unrealistisch.