Nachhaltigkeit als Stadttradition: Markus Baier, Bürgermeister der Alten Hansestadt Lemgo, im Gespräch
Was bewegt die Mitglieder der LAG 21 NRW? Wie setzen sie sich für Nachhaltige Entwicklung ein? Diesmal: Markus Baier, Bürgermeister der Alten Hansestadt Lemgo.
In der Alten Hansestadt Lemgo ruht man sich nicht auf der geschichtsträchtigen Vergangenheit aus. Hier werden zielstrebig Lösungen für ein zukunftsfähiges Morgen umgesetzt, wie Bürgermeister Markus Baier im Interview erklärt. Er gibt Einblick in die Nachhaltigkeitshistorie der Stadt, spricht über die Erarbeitung eines kommunalen Nachhaltigkeitsberichtes und erklärt, wieso das Ablegen alter Gewohnheiten den Weg in die Zukunft frei macht.
Bei welchen Themen rund um Nachhaltigkeit ist die Alte Hansestadt Lemgo heute besonders stark aufgestellt und welche spezifischen bzw. strukturellen Herausforderungen gibt es für die Stadt?
Wie der Titel „Alte Hansestadt“ schon verrät, blickt Lemgo auf eine lange Historie zurück und wurde um 1190 gegründet. Damit verbunden und dank weniger Kriegsschäden, besitzt die Alte Hansestadt Lemgo einen historischen Stadtkern mit sehr hohem Denkmalbestand. Energetische und strukturelle Transformationsprozesse sind hier deutlich aufwendiger und schwieriger umsetzbar, weshalb dies eine der wesentlichen Herausforderungen für uns darstellt. Die Alte Hansestadt Lemgo umfasst nicht nur die Stadt Lemgo und den stadtnahen Ortsteil Brake, zu Lemgo gehören auch noch zwölf weitere Ortsteile, die teilweise sehr klein sind. Eine weitere Herausforderung sehen wir darin, die Nachhaltige Entwicklung der Alten Hansestadt Lemgo gleichermaßen für alle Stadtbereiche und Ortsteile voranzutreiben, dabei aber die strukturellen Besonderheiten und individuellen Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Besonders gut aufgestellt sehen wie uns im Bereich des Klimaschutzes und verfolgen mit Hilfe unseres Klimaschutzkonzeptes das ehrgeizige Ziel der CO2-Neutralität 2035. Es gibt zudem sehr viele Bürgerbeteiligungen, bei denen Stadt und Bürger Hand in Hand zusammenarbeiten, um eine nachhaltige Stadtentwicklung gemeinsam voranzutreiben.
2010 schlug die Alte Hansestadt Lemgo den Weg einer strategischen Steuerung der Kommune ein – was war damals der Anlass und wie hat sich der Kurswechsel gestaltet?
Einhergehend mit der Banken- und Wirtschaftskrise brachen die zuvor sehr guten Ertragswerte zusammen. Die negativen Jahresergebnisse waren achtstellig und Zukunftsprognosen der Alten Hansestadt Lemgo sahen sehr düster aus. Die damit verbundene Unzufriedenheit sorgte 2009 dafür, dass durch die Kommunalwahl eine sehr heterogene Ratszusammensetzung entstand. Einerseits hatten wir nun eine politisch vielfältige Landschaft mit fünf Fraktionen und zwei Einzelratsmitgliedern und andererseits eine sehr prekäre finanzielle Lage. Es war klar, dass die Mittel der Wahl aus vergangenen Sparkursen (vom Zusammenstreichen freiwilliger Leistungen bis hin zur Unterlassung von Instandhaltungsleistungen usw.) weder ausreichend noch zielführend sein würden. Hinzu kamen die vielen neuen Akteure in Rat und Ausschüssen, zum Teil ohne vorherige politische Erfahrung. Vertrauen, Mehrheiten und Prozesse mussten sich erst noch bilden und einspielen. Die dafür nötige Zeit ließ der Konsolidierungsdruck nicht zu. Um von der Gefahr willkürlicher und von Populismus geprägter Debatten und Entscheidungen wegzukommen, wurde 2010 der strategische Zieleprozess begonnen. Es ging darum, einen gemeinsamen Wertekanon und damit verbunden strategische Ziele aufzustellen, um eine für alle Seiten langfristige Ausrichtung des kommunalpolitischen und städtischen Handelns zu fixieren. Aus der finanziellen Zwangslage heraus ist es 2010 gelungen, folgenden Ratsbeschluss zu fassen:
„Der Rat der Alten Hansestadt Lemgo verpflichtet sich, in den Haushaltsjahren 2010 bis 2014 die notwendigen Entscheidungen für einen zukünftig ausgeglichenen Haushalt (§ 75 Abs. 2 GO NRW) zu treffen, um langfristig die aufgelaufenen Schulden abzubauen. Aus Gründen der Intergenerationengerechtigkeit ist über die Mindestvorgaben des § 76 GO NRW hinaus der Ab-bau des Eigenkapitals so gering wie möglich zu halten. […] Es wird eine mit Vertretern der Fraktionen und der Verwaltung zusammengesetzte Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Konsolidierungsbemühungen laufend begleitet und über den Haupt- und Finanzausschuss vorantreibt.“
Lemgo hat in der dritten Phase des Projekts „Global Nachhaltige Kommune NRW“ einen kommunalen Nachhaltigkeitsbericht anhand des „Berichtsrahmen nachhaltige Kommune“ erarbeitet. Welche Effekte hatte der Erarbeitungsprozess für die Stadt und wie hilft der Bericht bei der Planung nächster Schritte?
Nachhaltigkeit, wenn auch nicht explizit als solche betitelt, gehört für die Alte Hansestadt Lemgo schon fast zu einer Tradition. Spätestens 2010 mit Einführung der Strategischen Stadtziele wurde hierfür ein struktureller Rahmen geschaffen. Die Teilnahme an dem GNK-Projekt war in mehreren Punkten sehr wichtig für uns. Zum einen haben wir uns dadurch intensiv mit den 17 globalen Nachhaltigkeitszielen der UN auseinandergesetzt und ein breitgeschultertes Bewusstsein dafür geschaffen, dass Nachhaltigkeit nicht nur Klimaschutzthemen beinhaltet, sondern neben der ökologischen Dimension gleichermaßen eine soziale und eine ökonomische Dimension umfasst. Auf der anderen Seite hat uns der BNK bei unserer Selbstreflektion geholfen. Wir haben über unsere strategischen Stadtziele hinausgeschaut und wissen jetzt, wo wir stehen. Die im BNK-Bericht als Grundlage genutzten SDG-Indikatoren gehen teilweise über unsere eigenen Kennzahlen hinaus und liefern uns wertvolle Erkenntnisse, um Lücken zu schließen und unsere strategische Ausrichtung in einigen Punkten noch einmal nach zu schärfen. Auch die interkommunale Zusammenarbeit und der gemeinsame Austausch, voneinander zu lernen, Synergieeffekte zu nutzen - all das nehmen wir als wertvolle Erfahrung aus den GNK-Projekt für uns mit.
Was können andere Kommunen Ihrer Meinung nach von diesen Prozessen in der Alten Hansestadt Lemgo lernen bzw. mitnehmen?
Mit Blick auf unsere Strategischen Stadtziele und die damit gewonnenen Erkenntnisse können wir ganz klar sagen, dass sich eine strategische Steuerung lohnt. Beim Wandern durch unbekannte Gebiete braucht es manchmal auch einen Kompass, um sich nicht zu verirren. Dies lässt sich auch auf uns Kommunen übertragen. Besonders in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit ist es wichtig und hilfreich, sich an langfristigen Zielen zu orientieren und dabei alle wesentlichen Dimensionen zu reflektieren. Die Corona-Pandemie, Kriegsflüchtlinge, Naturkatastrophen oder die aktuelle Energiekrise - es gibt sehr viele große Herausforderungen, die uns zu einem kurzfristigen Handeln zwingen und teilweise auch mit sehr hohen Kosten verbunden sind. Dies setzt einen soliden Haushalt und damit verbunden eine funktionierende Wirtschaft und regelmäßige Einnahmen voraus.
Ob es die SDGs oder eigene Stadtziele sind, an denen Sie sich orientieren: diese langfristigen Ziele und Leitbilder helfen, einen gemeinsamen Weg zu finden, eigene Belange auch einmal in den Hintergrund zu stellen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen, die dem Wohle aller dienen. Die Berichtserstattung ist ebenfalls unabdingbar. Nur wenn Sie regelmäßig wissen, wo sie stehen, haben Sie die Möglichkeit, negative Entwicklungen und Probleme frühzeitig zu erkennen und Maßnahmen einzuleiten, um diesen bestmöglich entgegenzuwirken.
Wir befinden uns in der „Dekade des Handelns“. Was braucht es Ihrer Meinung nach, um jetzt Menschen für Nachhaltige Entwicklung zu begeistern und auf dem Weg zur notwendigen Transformation mitzunehmen?
Ja, die aktuellen Zeiten erfordern ein Umdenken von uns in vielen Lebensbereichen und es braucht die Bereitschaft Aller, alte Gewohnheiten abzulegen. Dieses Ziel erreichen wir nur gemeinsam, mit Hilfe gut durchdachter und realisierbarer Lösungsansätze, die perspektivisch ein positives Zukunftsbild für uns und alle nachfolgenden Generationen ermöglichen. Selbstverständlich dürfen wir die Augen nicht vor der Realität verschließen: Der Klimawandel ist da und es liegt in unserer Verantwortung, die globale Welterwärmung einzudämmen. Weltuntergangsszenarien und Chaos helfen hier jedoch niemandem. Ohne Zukunftserwartung werden keine nachhaltigen Investitionen generiert werden können. Es ist gerade unsere Aufgabe als im globalen Vergleich dann doch kleine Industrienation, neue Wege und Lösungen zu entwickeln und aufzuzeigen. Wir in Lemgo gehen diesen Weg mit innovativen, konsequenten Klimaschutzmaßnahmen in Verbindung mit einer positiven Stadtentwicklung bei einer hohen Lebensqualität seit mehreren Jahrzehnten. Es ist die Dekade des Handelns, aber es ist noch nicht zu spät für wirkungsvolle, weltweite Entwicklungen und ich bin fester Überzeugung, dass wir es gemeinsam schaffen können, die großen mehrdimensionalen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.