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AktivistInnen aus Belarus: „Wir verstehen uns als ‚Animateure für Nachhaltigkeit‘“

Was assoziieren Sie mit Belarus, besser bekannt unter dem Namen „Weißrussland“? Vermutlich die Hauptstadt Minsk und den Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka. Vielleicht auch ausgedehnte Urwälder, den Maler Marc Chagall und eine starke Eishockey-Nationalmannschaft. Nachhaltige Entwicklung, Nachhaltigkeitsstrategien, Umweltschutz und Nachhaltige Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) sind vermutlich nicht unter den ersten Assoziationen. Genau das wollen belarussische Behörden und Zivilgesellschaft aber ändern.

Zehn NachhaltigkeitsexpertInnen aus ganz Belarus trafen sich nun zum sechsten Mal mit Kolleginnen und Kollegen von der LAG 21 NRW – zur Fortbildung, Beratung und zum Erfahrungsaustausch. Die meisten von ihnen arbeiten für Nichtregierungsorganisationen (NGOs). So auch Ailaksandra Kurylovich und Siarhei Tarasiuk. Die beiden sprachen mit uns über die Herausforderungen für Nachhaltige Entwicklung in ihrer Heimat – und über die großen Chancen, die eine Zusammenarbeit mit der LAG 21 NRW bietet. 

Schön, dass Sie beide Zeit für ein Gespräch haben. Uns interessiert zunächst: Wie sieht die Arbeit Ihrer Non-Profit-Organisation in Belarus aus?

Ailaksandra Kurylovich: Ich leite einen Fonds für Regionalentwicklung in der Brest-Region. Wir führen verschiedene Projekte durch, beispielsweise um Frauen in Unternehmen zu fördern und das Sozialunternehmertum zu unterstützen. Und wir arbeiten auch viel im Bereich Nachhaltige Entwicklung und organisieren Fortbildungen zum Thema.

Siarhei Tarasiuk: Ich bin Direktor der Internationalen Vereinigung für Ländliche Entwicklung. Wie der Name schon sagt, unterstützen wir die Entwicklung von Kommunen und Unternehmen im ländlichen Raum. Das geht von der regionalen Käseproduktion bis hin zum Naturschutz und Flächenmanagement.

Warum sind Sie am 17. und 18. September zu Besuch bei der LAG 21 NRW in Dortmund gewesen?

Siarhei Tarasiuk: Wenn wir Deutschland und Belarus vergleichen, steht Belarus bei der nachhaltigen Entwicklung noch ganz am Anfang. In Deutschland habt ihr bereits eine Menge Expertise in diesem Thema. Unser Hauptanliegen ist es, von euren Erfahrungen zu lernen.

Ailaksandra Kurylovich: Das Weiterbildungsprogramm läuft schon fast ein Jahr, mit Meetings und Trainings in Deutschland und Belarus. Zwischen diesen Terminen treffen wir uns mit unseren lokalen PartnerInnen zum Austausch und geben unser Wissen weiter. Für uns sind die Treffen mit der LAG 21 NRW auch eine Plattform, über die wir kommunizieren und vergleichen können. Klar ist: Nachhaltige Prozesse sind nicht immer leicht umzusetzen. Aber hier hilft uns die LAG 21 NRW mit Beratung, Kontakten und Einblicken in andere Regionen weiter.

Die Tools, die uns an die Hand gegeben werden, können wir gut gebrauchen. Wir lernen zum Beispiel viel über das Monitoring und die Evaluation von Nachhaltigkeitsstrategien im Lokalen. Also darüber, wie Nachhaltige Entwicklung vor Ort umgesetzt, begleitet und weitergedacht werden kann.

Siarhei Tarasiuk: Genau, es geht auch um Methoden und die Frage: Wie kann ich lokalen Gemeinschaften helfen, eine Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln? Heute ist leider schon unser letzter Kurstag. Gestern und heute haben wir deshalb einige Zwischenergebnisse unserer Treffen diskutiert und uns Ratschläge von den LAG 21 NRW-KollegInnen geholt. Unterstützt wird das Förderprogramm übrigens vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk / Dortmund & Minsk (IBB).

Wird Nachhaltige Entwicklung in Belarus eher von Nichtregierungsorganisationen angestoßen?

Ailaksandra Kurylovich: Das ist unterschiedlich. Belarus hat eine Nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Seit fast zwei Jahren gibt es eine vergleichsweise gute und intensive Unterstützung für das Thema auf der nationalen politischen Ebene. Unsere Regierung versucht, diese Strukturen weiter auszubauen. Ein Landeskoordinator für Nachhaltige Entwicklung ist persönlich dafür verantwortlich, die Strategie zu implementieren. Aber wir stehen nichtsdestotrotz noch am Anfang. Das ist die nationale Ebene.

Und dann haben wir lokale NGOs und lokale Initiativen, da gibt es ebenfalls viele sinnvolle Aktivitäten. Aber zwischen der nationalen und der lokalen Ebene klafft eine große Lücke, was Austausch und Information betrifft. Für die Engagierten in den Regionen ist wichtig, mehr über die SDGs zu lernen. Sie brauchen mehr Unterstützung, und oft ist es für sie ein Problem, diese zu bekommen.

Ist also Wissensaustausch und bessere Information eines Ihrer Ziele?

Ailaksandra Kurylovich: Ja, das betrachten wir als eine unserer Aufgaben. Momentan evaluieren wir beispielweise, was in den verschiedenen Regionen von Belarus passiert, in welchen Gruppen und mit welchen Fortschritten. Wir schauen uns die vorhandenen Nachhaltigkeitsstrategien an und versuchen, mehr Stakeholder an den Prozessen zu beteiligen. Gleichzeitig sehen wir, dass oft noch viel zu tun ist, um den eigentlichen Prozess in Gang zu bringen. 

Für mich sind die beiden größten Herausforderungen in unserem Land fehlende Ressourcen und der Mangel an Informationen über Nachhaltige Entwicklung.

Siarhei Tarasiuk: Dem stimme ich zu. Bildung in Sachen Nachhaltigkeit ist vielleicht sogar die größere Herausforderung. Es gibt allein zig unterschiedliche Vorstellungen von Nachhaltiger Entwicklung: Nachhaltigkeit – was bedeutet das überhaupt? Welche Ergebnisse sollen erzielt werden, wenn eine Nachhaltigkeitsstrategie angewendet wird?

Können Sie ein Beispiel nennen?

Siarhei Tarasiuk: Was wünschen sich denn NormalbürgerInnen? Einen gut bezahlten Job, eine saubere Umwelt, Gesundheit, Familienglück. BürgermeisterInnen in ländlichen Regionen hingegen wünschen sich Geld, um Probleme zu lösen. Ihr Budget ist stark begrenzt, um etwa Kindergärten zu bauen oder Schulen zu modernisieren – die Sozialpolitik leidet darunter.

Vermutlich ist es in Deutschland ähnlich: Jedes Jahr nimmt die Zahl der alten Menschen auf dem Land in Belarus zu. Dem stehen immer weniger Erwerbstätige gegenüber. Entsprechend verlieren die Landkommunen Steuereinnahmen, mit denen sie den sozialen Sektor finanzieren können. Also denkt sich die Kommune: „Wir arbeiten eine Nachhaltigkeitsstrategie aus, und dann werden wir sehr viel Fördermittel bekommen und Geld in entsprechenden Wettbewerben gewinnen.“

Das ist in unseren Augen ein falsches Verständnis von Nachhaltiger Entwicklung. Wir denken, dass eine Nachhaltigkeitsstrategie zuallererst Menschen dabei hilft, die Situation zu analysieren. Es geht darum, lokale Ressourcen und Kräfte für Aktivitäten zu mobilisieren, um die Strategie umzusetzen. Erst danach kann man sich nach Extra-Mitteln umsehen.

Auch wenn es ein langer Weg ist – gab es in Ihrer täglichen Überzeugungsarbeit schon kleine Erfolgserlebnisse?

Siarhei Tarasiuk: In der Region, wo ich als Berater von ländlichen Gemeinden tätig bin, habe ich gemerkt: Das Verständnis für Nachhaltigkeit wächst Schritt für Schritt. Die Bereitschaft, zuzuhören ist da. Das ist für mich das erste und beste Resultat, dass wir in der kurzen Zeit erzielen konnten.

Ailaksandra Kurylovich: Wir versuchen, mehr Menschen in unsere Arbeit einzubeziehen und sie zu schulen. In der Region, wo meine Organisation tätig ist, existiert seit drei Jahren eine Nachhaltigkeitsstrategie. Aber viele BewohnerInnen wissen gar nichts darüber. Ein großes Problem. Und wenn sie davon erfahren, wissen sie nicht, wie sie die Strategie umsetzen sollen. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.

Siarhei Tarasiuk: Das geschieht zum Beispiel über die Medien, über Informationstreffen oder Bildungsaktivitäten in Schulen und Kindergärten. Ein wichtiges Thema ist auch der regionale Naturschutz. Mehr und mehr gelingt es uns, die Leute zu überzeugen, ihre Seen und Wäldern zu bewahren – und nicht etwa illegal Wild zu jagen oder Holz zu schlagen. Das nennt sich Micro-Development. Wir zeigen ihnen auch, wie sie das Areal schützen und gleichzeitig Einkommen daraus generieren können – das Geld kommt dann wiederum dem Naturschutz zugute. Wir verstehen uns als „Animateure für Nachhaltigkeit“ – wir assistieren unseren PartnerInnen, ohne sie zu bevormunden. Wir schauen ihnen lieber über die Schulter und beraten sie.

Ailaksandra Kurylovich: Die Weiterbildung bei der LAG 21 NRW hat mir auf jeden Fall sehr geholfen, die Bedürfnisse in den Regionen besser zu verstehen. Besonders beeindruckt hat mich die Vorstellung der Nachhaltigkeitsstrategie im Kreis Unna und ihre angedachte Implementierung über den Kreishaushalt: wie die Menschen es dort schaffen, ihre Arbeit auf die SDGs auszurichten und ihr Budget gezielt dafür einzusetzen. Dank solcher Beispiele wissen wir nun besser, wie wir arbeiten müssen und die Menschen gezielt ausbilden können – etwa in Workshops rund um den Umweltschutz oder zu anderen Themen.  

Siarhei Tarasiuk: Das mögen erstmal sehr kleine Lösungen und Schritte sein. Aber sie sind grundlegend.

Frau Kurylovich, Herr Tarasiuk, vielen Dank für das Gespräch!

 

Mehr über das Projekt lesen Sie hier auf unserer Webseite.

Die Fragen stellte die LAG 21 NRW-Pressestelle.

Die AktivistInnen aus Belarus vor der LAG 21 NRW in Dortmund.

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